Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

die Dramatik des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine hat unsere Abhängigkeit von Gas, Öl, Kohle und Uran aus Russland schonungslos offengelegt und als Reaktion darauf energiepolitische Grundpfeiler verschoben. So sehr, dass selbst die gerade vom IPCC sehr eindrücklich dargelegte Dringlichkeit für mehr und effektiveren Klimaschutz in der öffentlichen Aufmerksamkeit nahezu untergegangen ist.

Immerhin: Wir müssen uns nicht zwischen der Lösung dieser beiden Herausforderungen entscheiden. Sowohl für die Unabhängigkeit von russischen Energieimporten als auch für den Klimaschutz brauchen wir eine umfassende Transformation mit einer schnellen und massiven Senkung des Energieverbrauchs sowie einen erheblich beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien. Im Kern können wir beide Aufgaben mit denselben Instrumenten bewältigen.

Zwar müssen wohl aus Gründen der Versorgungssicherheit vorübergehend auch Lösungen umgesetzt werden, die dem Klimaschutzanliegen entgegenstehen. Doch das ist letztlich aufgrund der Mechanismen des Klimaschutzgesetzes und des Emissionshandels-Caps unproblematisch. Denn temporäre Mehremissionen müssen mittelfristig durch ambitioniertere Reduktionen innerhalb der verfügbaren Budgets ohnehin wieder ausgeglichen werden.

Was mir aber Kopfzerbrechen bereitet, sind die bestehenden Pfadabhängigkeiten. Diese führen dazu, dass die derzeitigen Rechtsstrukturen zu selten hinterfragt, sondern regelmäßig unkritisch zum Ausgangspunkt der Weiterentwicklung gemacht werden. Eine echte Zeitenwende erfordert aber gerade das Hinterfragen liebgewonnener Paradigmen und notfalls das Durchbrechen von Strukturen und Entwicklungslinien. Ausdrücklich will ich uns Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht davon ausnehmen. Auch wir stecken bei unserer Suche nach den erforderlichen Veränderungen zu häufig in Denkmustern der Kontinuität fest.

Diese Pfadabhängigkeiten lassen sich deutlich auch bei den aktuellen Gesetzgebungsverfahren beobachten. Hier ist die Zeitenwende trotz Osterpaketes noch nicht wirklich angekommen. Zwar sieht der Regierungsentwurf mindestens 80 Prozent erneuerbare Energien bis 2030, eine nahezu treibhausgasneutrale Stromerzeugung bis 2035 und deutlich gesteigerte Ausschreibungsmengen für Windenergie und PV-Freiflächenanlagen vor – hier scheint die Zeitenwende schon vollzogen zu sein.

Ein Paradigmenwechsel ist damit jedoch noch nicht verbunden. Ausbaupfade und Ausschreibungsmengen verharren in der Logik der Begrenzung der Ausbaugeschwindigkeit, da es keine Möglichkeit gibt, besser als die Planungen zu sein. Noch deutlicher ist aber der Blick auf die Instrumente, mit denen die beschleunigten Entwicklungen erreicht werden sollen. Hier fehlen die Ideen weitgehend, wie die deutlich ambitionierteren Ziele erreicht werden sollen. Wirklich neue Ansätze sind kaum zu finden. Die lähmenden Wirkungen von Pfadabhängigkeiten zeigen sich hier am deutlichsten.

Bestehende Denkblockaden zu überwinden, ist die große Aufgabe der Zeitenwende. Wir wollen dazu gerne unseren Beitrag leisten. Mehr über aktuelle Arbeiten erfahren Sie in den Artikeln dieses Newsletters. Ganz herzlich lade ich Sie auch zu unseren Webinaren ein. Aber auch dazu, mit uns gemeinsam Wege zu finden, Denkblockaden zu überwinden und Pfadabhängigkeiten zu durchbrechen. Ich freue mich auf den Austausch dazu mit Ihnen!

Herzliche Grüße

Ihr Thorsten Müller