Das überragende öffentliche Interesse: § 2 EEG 2023 in der Praxis

31. Juli 2023 / 4 Minuten Lesedauer

Das OVG Greifswald hat sich in einem Verfahren zu § 2 EEG 2023 geäußert. Dabei stellte es die Bedeutung des Paragrafen in aller Deutlichkeit klar. (Foto: David Hense, Fotolia)

Das OVG Greifswald (07.02.2023 – 5 K 171/22 OVG) nahm den Rechtsstreit um eine Windenergieanlage zum Anlass, sich umfassend mit Verständnis und Reichweite des überragenden öffentlichen Interesses und der öffentlichen Sicherheit nach § 2 EEG 2023 auseinanderzusetzen. Wie sieht das Urteil aus und welche Folgen hat es für die Praxis?

Nach § 2 EEG 2023 liegen die Errichtung und der Betrieb von Erneuerbare-Energien-Anlagen im überragenden öffentlichen Interesse und dienen der öffentlichen Sicherheit. Bis die Stromerzeugung in Deutschland nahezu treibhausgasneutral ist, sollen die erneuerbaren Energien als vorrangiger Belang in die Schutzgüterabwägungen eingebracht werden.

Das OVG Greifswald hat in seinem vielbeachteten Urteil nicht nur die Verfahrensführung der Genehmigungsbehörde gerügt, sondern sich auch ausführlich zu § 2 EEG 2023 geäußert. Die Aussagen des Gerichts sind vor allem deshalb bemerkenswert, weil es für diesen Fall eigentlich gar nicht mehr auf die Regelung des § 2 EEG 2023 ankam. Gleichwohl sah es sich – wohl aufgrund vorangegangener Aussagen von Behörden, Ministerien und anderen Gerichten – veranlasst, zu den Regelungswirkungen von § 2 EEG 2023 Stellung zu nehmen.

Ein „regelmäßiges Übergewicht der erneuerbaren Energien“

Als Folge der gesetzgeberischen Wertung zum überragenden öffentlichen Interesse und der öffentlichen Sicherheit seien die erneuerbaren Energien bei behördlichen Abwägungsentscheidungen mit einem besonders hohen Gewicht in die Abwägung einzustellen, so das Gericht und auch bereits die Gesetzesbegründung zu § 2 EEG 2023. Hierdurch sei das Gewicht der Erneuerbaren vom Gesetzgeber quasi „voreingestellt“ und die Gewichtung damit nicht mehr allein den Behörden im Vollzug überlassen. Dies gelte auch bei Landesrecht wie dem Denkmalschutzrecht und sei bei allen behördlichen Abwägungsentscheidungen strikt zu beachten.

Im Ergebnis folge daraus ein „regelmäßiges Übergewicht der Erneuerbaren Energien“, das nur in atypischen Ausnahmefällen überwunden werden kann. Dies gelte für jede einzelne Anlage, da dem Klimawandel nur durch viele, für sich genommen oft kleine Begrenzungsmaßnahmen begegnet werden kann (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.03.2022 – 1 BvR 1187/17, juris Rn. 104, 142 ff.). Es komme für den notwendigen Ausbau der Windenergie auf jede einzelne Windenergieanlage an, so das OVG Greifswald.

Was gehört noch zum Prüfungsumfang?

Dieses „regelmäßige“ Übergewicht bedeutet keinen absoluten Vorrang, bei dem sich die erneuerbaren Energien immer durchsetzen würden, sondern einen relativen Vorrang, der im Einzelfall bei entsprechend gewichtigen Gegeninteressen überwunden werden kann. Auch bei der Anwendung von § 2 EEG 2023 sind weiterhin alle Genehmigungsvoraussetzungen zu prüfen und – wo vorgesehen – Abwägungsentscheidungen zu treffen; dies wird nicht etwa obsolet. Der Prüfungsumfang bei Abwägungsentscheidungen beschränkt sich jedoch wegen des gesetzlichen Regel-Ausnahme-Verhältnisses künftig darauf, ob ein atypischer Ausnahmefall vorliegt. Gibt es hierfür keine Anhaltspunkte, setzt sich als Regelfall das überragende öffentliche Interesse am Erneuerbaren-Ausbau durch.

Zugleich verschiebt sich damit die Darlegungs- und Begründungslast vom Vorhabenträger auf die Behörde. Dabei könne es, so das OVG Greifwald zutreffend, im Rahmen der Abwägung auch nicht auf mögliche Standortalternativen ankommen, die das Abwägungsgewicht der erneuerbaren Energien abschwächen könnten. Dies sehe § 2 EEG 2023 nicht vor und würde ansonsten die gesetzgeberische Wertung unterlaufen. Die Frage nach Standortalternativen ist zumindest bei der Abwägung also nicht zu berücksichtigen, also kein abwägungsfähiger Belang.

Auf Alternativenprüfungen außerhalb der eigentlichen Abwägung, wie sie bei Ausnahme- und Befreiungsentscheidungen häufig vorgeschrieben sind, hat § 2 EEG 2023 keine Auswirkungen. Aber auch hier betont das Gericht, dass es angesichts der massiven Ausbauziele und der notwendigen Beschleunigung sowie der hohen Flächenkonkurrenz, der schwierigen Grundeigentums- und Nutzungsverhältnisse und der Notwendigkeit, Schutz- und Ausgleichsmaßnahmen dinglich zu sichern, ohnehin vielfach an Ausweich- oder Alternativstandorten fehle. Im Übrigen müsse auch hier zunächst die Behörde gewisse Ausweichoptionen darlegen. Das Gericht kommt daher folgerichtig zum Schluss: „Jede einzelne Anlage an jedem einzelnen Standort ist überragend wichtig.“

Öffentliche Sicherheit und öffentliche Gesundheit

Ferner betont das Gericht, dass über § 2 EEG 2023 neben dem öffentlichen Interesse in Form des Klimaschutzes auch das öffentliche Sicherheitsinteresse bei der Gewichtung und Abwägung zu beachten sei. Gemeint ist damit die Energieversorgungssicherheit, da der Ausbau und die Nutzung der Windenergie, wie auch der übrigen erneuerbaren Energien, zugleich die derzeit besonders gefährdete Sicherung der Energieversorgung unterstützen.

Der Ausbau der erneuerbaren Energien als Maßnahme für den Klimaschutz dient weiterhin zugleich der öffentlichen Gesundheit, wie auf europäischer Ebene im dritten Erwägungsgrund der Erneuerbaren-Energien-Richtlinie (EU) 2018/2001 und auch jüngst in Art. 3 der EU-Notfall-Verordnung 2022/2577 festgeschrieben wurde. Auch wenn dieses Schutzgut keinen direkten Eingang in den Wortlaut von § 2 EEG 2023 gefunden hat, ist es dennoch über das „allgemeine“ überragende öffentliche Interesse in § 2 EEG 2023 als wichtiger Abwägungsbelang einzustellen (Deutinger/Sailer, ZNER 2023, S. 120 (126), vgl. zuvor schon VG Braunschweig, Urt. v. 11.05.2022 – 2 A 100/19, Rn. 51 f.). Damit bilden insbesondere der Klimaschutz, die Versorgungssicherheit und der Gesundheitsschutz das Fundament für das besonders hohe Gewicht und die daraus resultierende Vorrangstellung der erneuerbaren Energien nach § 2 EEG 2023.

Das Urteil als wichtige Richtschnur für die Praxis

Das OVG Greifswald hat mit seiner Entscheidung wichtige Klarstellungen zu § 2 EEG 2023 vorgenommen und dessen Umfang und Tragweite für die Praxis zutreffend konkretisiert: Künftig haben alle für die Errichtung und den Betrieb von Erneuerbare-Energien-Anlagen zuständigen Behörden die gesetzgeberischen Vorgaben des § 2 EEG 2023 bei Schutzgüterabwägungen und anderen Wertungsentscheidungen zu beachten und von Gesetzes wegen anzuwenden. Dazu bilden die Aussagen des Gerichts eine wichtige Richtschnur.

Ihre Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner: Maria Deutinger und Frank Sailer

Publikation

Maria Deutinger, Frank Sailer: Verfahrensrecht, Denkmalschutz und § 2 EEG 2023: Rückenwind für die erneuerbaren Energien durch das OVG Greifswald – zugleich Anmerkung zu OVG Greifswald, Urt. v. 07.02.2023 – 5 K 171/22 OVG; in: Zeitschrift für Neues Energierecht (ZNER) 2023, Heft 2, S. 120-128